Aller guten Dinge sind drei: In der dritten Bundesliga-Saison 1965/1966 erfüllten sich die Löwen und ihrem Anhang einen Traum und holten die Deutsche Meisterschaft nach München. Den Grundstein legte die Truppe von Max Merkel am vorletzten Spieltag, als sie beim frisch gekürten Europapokalsieger und hartnäckigstem Widersacher Borussia Dortmund mit 2:0 gewann.
Der TSV 1860, wenige Monate zuvor erst im Finale des Cup-Wettbewerbs von West Ham United gestoppt, zählt zu den Favoriten um den nationalen Titel. Es war über die Jahre gelungen, aus bodenständigen Bayern, egozentrischen „Zugroasten“ wie dem filigranen Techniker Hansi Küppers oder dem artistischen Keeper Petar Radenkovic eine funktionierende Zweckgemeinschaft zu formen. Die bereits gute Mannschaft wurde nochmals qualitativ verstärkt. Der Dortmunder Borussia schnappte man ihren Torjäger Timo Konietzka weg, und Zjelko Perusic, der Mann aus Zagreb, war nach einem Jahr im Wartestand endlich spielberechtigt. Zeitweise hatten die Löwen mit Fredi Heiß, Küppers, Rudi Brunnenmeier, Peter Grosser, Konietzka und Hans Rebele sechs Nationalstürmer in ihren Reihen. Dazu kamen mit Bernd Patzke und Rudi Steiner noch zwei Abwehrspieler.
Die Löwen legten einen Start nach Maß hin. „Wir hatten damals außergewöhnlich viel trainiert, waren fit in die Saison gegangen“, erinnert sich Grosser. 1:0 zum Auftakt im Derby gegen die Bayern, danach ein 4:1 beim 1. FC Nürnberg (mit drei Brunnenmeier-Toren) und im Heimspiel gegen Hannover gab’s anschließend einen 5:0-Sieg. Diesmal gelang Timo Konietzka ein Dreierpack. Die Löwen waren Spitze, wie nicht anders erwartet.
Am 4. Spieltag dann jedoch der große Dämpfer. Mit 0:3 verlor man auf dem Betzenberg in Kaiserslautern, Merkel war stocksauer. Auch nach dem 0:0 im nächsten Heimspiel gegen den VfB Stuttgart, in dem gleich zwei Elfmeter durch Otto Luttrop und Rudi Brunnenmeier vergeigt wurden. Überhaupt war Brunnenmeier in dieser Phase völlig von der Rolle, und Merkel lästerte: „Der Rudi ist kein Sturmtank mehr, der kommt eher daher wie ein Brauereiwagen.“ Der Trainer nahm dem Mittelstürmer die Kapitänsbinde weg, ernannte Peter Grosser zum neuen Spielführer. Danach ging’s wieder aufwärts. Es folgten fünf Siege in Serie, der TSV 1860 verlor kein einziges Spiel mehr bis zum Ende der Vorrunde und belegte mit 29:5 Punkten Platz eins, vor Lokalrivale FC Bayern und Dortmund.
Der Erzrivale war auch Gegner am ersten Rückrundenspieltag und fügte den Löwen eine bittere 0:3-Niederlage zu. Das Meisterschaftsrennen war wieder völlig offen. Zumal die Sechziger in der Folge ebenfalls viele Punkte abgaben, nach sechs Partien in der Rückrunde stand lediglich ein Sieg auf dem Konto. Und obendrein schied man auch noch mit einem 0:4 beim amtierenden Meister Werder Bremen in der 1. Hauptrunde des DFB-Pokals aus.
In der Mannschaft begann es zu rumoren, die Spieler fühlten sich schlapp und kaputt, beklagten sich darüber, dass Merkel viel zu hart trainiere. Als der Trainer davon erfuhr, regte er sich dermaßen auf, dass er wegen einer Gallenerkrankung zwei Wochen lang ausfiel. Für Grosser war es der Schlüssel zum Erfolg. Trainer Max Merkel überspannte in der Vorbereitung auf die Rückrunde den Bogen. „Wir hatten zu viel Kraft verbraucht. In dieser Zeit konnten wir wieder regenerieren.“ Anschließend lief es rund. Am 16. April 1966 feierten die Löwen sogar mit 9:1 bei Borussia Neunkirchen den höchsten Auswärtserfolg in der Bundesligageschichte. Fredi Heiß traf gleich viermal.
Den Grundstein zum Meistertitel legten die Weiß-Blauen aber am vorletzten Spieltag beim ärgsten Rivalen Dortmund. Die Borussia, gerade mit einem 2:1 über den FC Liverpool Europacupsieger der Pokalsieger geworden, schwamm auf einer Welle der Euphorie und wollte nun auch den deutschen Titel holen. Mit jeweils 47 Punkten lagen beide Teams gleichauf an der Spitze – es war ein echtes Finale. Patzke kümmerte sich um Stan Libuda, Manni Wagner um Lothar Emmerich und Rudi Zeiser musste Siggi Held ausschalten.
Die Borussia legte los wie die Feuerwehr. Radi befand sich in Hochform, hielt alles, was auf seinen Kasten kam. Etwa nach einer halben Stunde ging den Schwarz-Gelben etwas die Puste aus. Grosser übernahm im Mittelfeld das Kommando, initiierte Angriff um Angriff und machte das Spiel seines Lebens. In der 65. Minute fiel die Führung. Rebele hatte den Ball erkämpft, passte auf Grosser, der Brunnenmeier mit einem herrlichen Diagonalpass auf die Reise schickte. Der Löwen-Torjäger blieb cool, überwand den herausstürzenden Hans Tilkowski im BVB-Tor. Zwei Minuten vor dem Abpfiff sorgte Grosser für die Entscheidung. Nach einem Dribbling schloss er zum 2:0-Endstand ab.
„Wir gingen siegessicher ins Spiel gegen den HSV“, so Grosser über das Heimspiel am letzten Spieltag gegen die Hanseaten, bei dem ein Punkt gegen Uwe Seeler & Co. genügte. Und dieser wurde beim 1:1 vor 44.000 Zuschauern bei strömendem Regen im Grünwalder Stadion geholt.
Insgesamt 80 Saisontore erzielten die Sechzger mit ihrer legendären Offensive um Brunnenmeier, Konietzka, Heiß und Rebele. Dazu spielte Grosser die Saison seines Lebens, steuerte als Mittelfeldspieler 18 Tore zum größten Triumph der Löwen-Vereinsgeschichte bei. Anschließend ging es im Triumphzug zum Marienplatz, wo die Löwen von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel empfangen wurden. „Die Begeisterung war sensationell“, erinnert sich Heiß. „Der Regen hielt die vielen Fans nicht davon ab, in Scharen zu kommen.“
KURIOSES
Meisterfeier mit Frauen
Die Löwen feierte die Meisterschaft am Abend relativ bieder im „Klösterl“, einem Lokal in der Schneckenburgerstraße in Steinhausen, adrett gekleidet mit ihren Gattinen und Freundinnen. Zuvor war die gesamte Mannschaft noch ins Studio nach Unterföhring gefahren, wo eine Schaltung ins „Aktuelle Sportstudio“ vorgenommen wurde. Auf die Torwand durfte Keeper Radenkovic schießen. Seine Ausbeute: Null Treffer! Danach im „Klösterl“ waren rund 100 Gäste anwesend. Gefeiert wurde bis in die frühen Morgenstunden. Und diejenigen, die immer noch nicht genug hatten, fuhren in die „Zwickmühle“, der damaligen Stammkneipe vieler Löwen-Spieler.
Gastarbeiter Radi
Beim Empfang im Rathaus machte Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel Torhüter Radenkovic noch einmal große Komplimente für dessen tolle Leistung im Spiel zuvor gegen Dortmund. Vogel: „Besonders beeindruckt war ich, als Sie den Ball erst mit der Faust abwehrten und dann im Fallen nochmal mit dem Fuß klärten.“ Der „Radi“ grinste: „Ja, ja, Herr Oberbürgermeister, müssen wir Gastarbeiter eben arbeiten mit Händen und Füßen!“
Extraprämie für Peru
Zjelko Perusic war am vorletzten Spieltag in Dortmund nach dem Schlusspfiff vom Hund eines Ordners gebissen worden. Trotzdem war er gegen den HSV dabei. Eigentlich zählte der kleine „Peru“ zu den ruhigsten im Löwen-Team, große Worte waren nie seine Sache. Aber nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft flippte er aus. Jedenfalls für seine Verhältnisse. Der Verteidiger hatte sich das Trikot vom Leib gerissen und hüpfte, mit zwei Blumensträußen in der Hand, wie ein Derwisch über den Rasen des Sechz’ger-Stadions. Max Merkel beobachtete mit einem Lächeln, wie sein Lieblingsspieler den Triumph auskostete und setzte noch am Abend bei der Vorstandschaft durch, dass Perusic eine Extraprämie von 10.000 Mark erhielt. Merkel: „Der Peru ist ein Spieler, der sich in jeder Partie 90 Minuten lang hundertprozentig einsetzt. Er hatte sich die 10.000 Mark redlich verdient.“
Manni Wagner und die Angst
Obwohl die Löwen am letzten Spieltag gegen den Hamburger SV zum Titelgewinn nur noch einen Punkt benötigten, hatten ganz schön Fracksausen. Kurz nach Spielbeginn flehte Manni Wagner in einem Gespräch mit Uwe Seeler, der wie immer sein direkter Gegenspieler war: „Mei o mei, Uwe. Wenn’s nur grad’ scho aus wär’.“ Der Hamburger Mittelstürmer versuchte ihn zu beruhigen. „Bleib ruhig, Manni“, sagte er, „ihr schafft das schon. Keine Sorge.“ Wagner aber traute dem Frieden nicht und drohte Seeler: „I sog’s dir Uwe, macht’s bloß koan Schmarrn. Macht’s bloß koan Schmarrn!“ Dann, nach dem Schlusspfiff war Wagner endlich erlöst von seiner Pein. Der Verteidiger verriet hinterher: „Ich hab’ mir schon eine Hütte im Gebirg’ g’mietet g’habt, falls noch was schief’gangen wär’!“
Toto-Timo
Mit 26 Toren war Friedhelm Konietzka, den alle nur Timo nannten, bester Torschütze der Meistermannschaft. Ihn vom BVB loszueisen, war nicht einfach. Eine zusätzliche Einnahmequelle neben dem Fußball war Grundbedingung. Viel hatte Konietzka nicht gelernt. Ganz am Anfang hatte er in einem Bergwerk gearbeitet, was in München schlecht ging. Blieb nur eins, wie bei vielen Fußballern damals: eine Totoannahmestelle. Und dabei half der Zufall kräftig mit. Trainer Max Merkel fuhr mit August Dresbach, einem Gönner des Vereins, durch München, beide hielten Ausschau nach einem geeigneten Objekt, und in einem Laden verwickelte Dresbach den Inhaber in ein Gespräch über Fußball. Der alte Herr ärgerte sich besonders darüber, dass die Löwen nicht genug Tore schossen, der Verein solle bessere Stürmer einkaufen, empfahl er. Da war er genau an der richtigen Adresse. Als Merkel und Dresbach dem guten Mann klarmachten, dass dessen Totoannahmestelle dafür benötigt würde, willigte dieser sofort in den Verkauf ein. Dresbach stellte einen Scheck aus, Konietzka hatte den gewünschten Job und wurde ein Löwe.
INTERVIEW MIT PETER GROSSER
Sechs Jahre, zwischen 1963 und 1969 trug PetervGrosser das Löwen-Trikot, absolvierte in dieser Zeit 130 Bundesliga-Spiele (49 Tore), 14 Partien im DFB-Pokal (4) sowie 23 internationale Spiele (8). Geboren in München, war er nach dem verpassten Aufstieg des FC Bayern in die Bundesliga 1963 an die Grünwalder Straße gewechselt. Dort wurde der Edeltechniker zum Regisseur und Ideengeber. Nach der Saison 1968/1969 verließ Grosser die Löwen, wechselte zu Austria Salzburg. Für die Österreicher absolvierte er bis zu seinem Karriereende 1975 164 Erstligaspiele und erzielte 32 Tore. Später war Grosser Trainer bei der SpVgg Unterhaching und Türk Gücü München, während der Bundesliga-Zeiten auch Vizepräsident der Hachinger.
Über das Meisterjahr wurde schon viel geschrieben. Was ist Ihnen in Erinnerung?
Peter Grosser: Das große Auf und Ab in dieser Saison. Wir waren die beste Vorrundenmannschaft. In der Rückrunde hatten wir die Meisterschaft eigentlich schon verspielt, ehe wir im Endspurt den Titel doch noch gewonnen haben.
Was war der Knackpunkt?
Grosser: Das Spiel in Dortmund. Die Borussia hatte zwei Wochen zuvor den Europapokal gewonnen, und wir besiegten sie im eigenen Stadion mit 2:0, verdrängten sie von der Spitze. Am letzten Spieltag gab’s im Grünwalder ein 1:1 gegen den HSV. Bei strömendem Regen haben 20.000 Fans auf dem Marienplatz auf uns gewartet. Es war unbeschreiblich.
Welchen Stellenwert hatte die Meisterschaft für die Löwen?
Grosser: 1860 hat sich in ganz Bayern, auch durch den Pokalsieg 1964 und die Europacup-Finalteilnahme 1965, viele Fans erworben. Sie sind bis heute geblieben, haben in der Folge nicht die Farben gewechselt, sind allenfalls – gerade zu Bayernligazeiten – weggeblieben. Diese kann man sicherlich wieder aktivieren.
Wenn Sie den Fußball von damals und heute vergleichen: Wo liegen die Unterschiede?
Grosser: Sicher nicht in der Athletik. Wir sind damals ja nicht spazieren gegangen. Otto Luttrop und ich waren als einzige Mittelfeldspieler im 4–2–4-System laufend unterwegs. Der größte Unterschied zu heute liegt in der Taktik.