Der Löwen-Dompteur kehrte zurück: Max Merkel feierte in der Saison 1974/1975 ein Comeback bei den Sechzgern als Trainer. Der Meistermacher kündigte aber vorzeitig seinen Vertrag. Heinz Lucas löste ihn deshalb sieben Spieltage vor Saisonende ab. Am Ende fehlte dem TSV 1860 als Fünfter drei Punkte auf Rang zwei. Für einen Farbtupfer sorgte der Nationaltorwart Haitis, Henri Francillon, der als Star der WM 1974 verpflichtet worden war.
Die fünfgleisige Regionalliga war nach der Saison 1973/1974 Geschichte. Aufgrund einer Fünfjahreswertung wurde die 2. Bundesliga eingeführt, die in zwei Staffeln zu jeweils 20 Vereinen spielte – eingeteilt in Nord und Süd. Die Löwen, die im Jahr zuvor in ihrer ersten kompletten Saison im Olympiastadion ihren Zuschauerschnitt auf über 28.000 Zuschauer steigern konnten, wollten einmal mehr unbedingt aufsteigen.
Das sollte mit der Sensationsverpflichtung auf dem Trainerstuhl gelingen. Die Verpflichtung von Max Merkel löste im Sommer der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland eine Euphoriewelle beim Löwenanhang aus. Der Meistertrainer, der siebeneinhalb Jahre zuvor nach einem Zerwürfnis mit der Mannschaft den Verein verlassen musste und seitdem nur Hohn und Spott über den TSV 1860 vergossen hatte, kehrte an die Stätte seiner größten Erfolge zurück.
Ehrenpräsident Adalbert Wetzel und Fußball-Chef Walter Kraus hatten den mittlerweile 55-Jährigen zu einem Comeback überreden können. Nicht ganz uneigennützig. Angeblich ließ er sich diesen Freundschaftsdienst mit 45.000 Mark pro Monat entlohnen. Damit hatten die Löwen also wieder einen großen Trainer, aber beileibe keine große Mannschaft. Und Geld trotz des guten Zuschauerschnitts schon gar nicht. Dafür aber jede Menge Schulden, mehr als drei Millionen sollen’s Mitte 1974 gewesen sein.
Viele gute Spieler, darunter Hanjo Weller, Charly Mrosko oder Bernd Patzke, hatten den Verein verlassen. Verpflichtet wurde mehr Quantität als Qualität. An Namen wie Arne Rastad, Wolfgang Ling, Johann Kriar, Heinz Knüwe oder Waldemar Pagojus hatten sich die Löwen-Fans nun zu gewöhnen – mehr oder weniger. Denn manche von ihnen wurden auch schnell wieder aussortiert.
Merkel war klar: Mit dieser Mannschaft konnte man nur was gewinnen, wenn sie den anderen kräftemäßig überlegen war. Fußballerisch war nicht allzu viel drin. Und deshalb langte der Max beim Training hin, dass den Spielern die Ohren wackelten. Die gefürchtetste Übung: Der 400-m-Lauf mit zwei Medizinbällen unter den Armen. Bei der Premiere dieser Horror-Disziplin kam nur einer durch: Hans-Dieter „Datschi“ Seelmann. Alle anderen brachen unterwegs zusammen, manche hatte es schon in der ersten Kurve umgehauen.
Die Löwen waren fix und fertig, auch noch, als die Saison begann. Und so war es eigentlich kein Wunder, dass man sich nach fünf Spieltagen mit 1:9-Punkten auf dem letzten Platz wiederfand. Aber allmählich ging’s dann aufwärts. Mittlerweile hatte Merkel auch Meisterspieler Hansi Reich zur Stabilisierung der Abwehr an Land gezogen, und nach vier Siegen in Folge, vom 8. bis 11. Spieltag, war der TSV 1860 aus dem Gröbsten raus. Jetzt strebte man höhere Ziele an. Mittlerweile hieß der Präsident Erich Riedl, über den sich Merkel zunächst noch sehr lobend äußerte.
Zum Abschluss der Vorrunde schlugen die Sechziger den 1. FC Nürnberg mit 3:2 und belegten Rang neun. Im neuen Jahr ging’s weiter steil nach oben. Die ersten fünf Rückrundenspiele wurden alle gewonnen, und nach einem 1:0 gegen den 1. FC Saarbrücken am 8. März 1975 vor 61.000 Zuschauern im Olympiastadion gerieten die Löwen-Fans völlig aus dem Häuschen: Der TSV 1860 kletterte zum ersten Mal in dieser Saison auf Platz zwei, die Rückkehr in die Bundesliga schien keine Utopie mehr.
Eine Woche später dann der große Schock. Im Spiel bei den Stuttgarter Kickers fuhr deren Vorstopper Horst Schairer bereits in der 1. Minute Ferdinand Keller derart brutal in die Parade, dass der Löwen-Torjäger ausscheiden und noch am Samstagabend wegen eines Innenbandrisses im Knie operiert werden musste. 1860 verlor nicht nur das Spiel mit 0:1, sondern mit Keller auch seinen besten Torschützen.
Wieder eine Woche später der nächste Hammer: Max Merkel kündigte vor dem Heimspiel gegen die SpVgg Fürth seinen Vertrag bei den Löwen. Angeblich wegen Differenzen mit Präsident Riedl, was die zukünftige Ausrichtung betraf. Der wahre Grund dürfte aber gewesen sein, dass der FC Bayern Merkel ein Engagement in Aussicht gestellt hatte. Wozu es dann aber nicht kam, weil Dettmar Cramer den Europacup gewann.
Bei vier Punktspielen saß Merkel noch als Trainer auf der Löwen-Bank, nachdem er seinen Abschied verkündet hatte. Am 19. April 1975 nach einem 1:3 gegen Schweinfurt 05 war dann endgültig Schluss. Der neue Mann hieß Heinz Lucas, der die Löwen mit drei Punkten Rückstand auf Rang zwei vor den letzten sieben Saisonspielen übernahm. Bei diesem Rückstand blieb’s dann auch, als die für die Sechzger so turbulente Spielzeit zu Ende war. Platz fünf belegten die Löwen in der Endabrechnung.
KURIOSES
Als der Schorsch Gelb zeigte
Es war im Grunde eine Lachnummer, die im deutschen Fußball bis heute einmalig geblieben ist. Nur der Schiedsrichter verstand zum Leidwesen von Schorsch Metzger überhaupt keinen Spaß. Was war passiert? Im Heimspiel der Löwen am 24. August 1974 gegen Mainz 05 war Metzger von seinem Gegenspieler Herward Koppenhöfer in der 43. Minute umgesäbelt worden. Der Schorsch empfand dieses Vergehen als verwarnungswürdig und schritt selbst zur Tat. Er griff Schiedsrichter Wilfried Haselberger in die Brusttasche und holte die Gelbe Karte heraus. Der völlig verblüffte Schiri jedoch hielt überhaupt nichts von dieser Art der Mitbestimmung und zückte selbst die Rote Karte gegen Metzger. Max Merkel tobte hinterher. „Eine absolute Sauerei, was sich der Metzger erlaubt hat“, schimpfte der Trainer und kündigte eine Geldstrafe für seinen Spieler an, der zudem vom DFB-Sportgericht für drei Spiele gesperrt wurde.
Jimmy und der Möbelwagen
Ein Spieler atmete besonders kräftig auf, nachdem Max Merkel den TSV 1860 wieder verlassen hatte: Jimmy Hartwig. Für den damals 20-jährigen Abwehrspieler geriet die Arbeit unter dem österreichischen Trainer zur absoluten Tortur. Merkel ließ Hartwig ständig spüren, wie wenig er von dessen fußballerischen Fähigkeiten hielt. „Der trifft ja aus fünf Metern nicht mal einen Möbelwagen“, lästerte der Coach, wenn er Hartwig beim Schusstraining beobachtete.
Torwart, Senator, Flüchtling
Der einzige Star, den sich die Löwen zu Beginn der Saison 1974/1975 leisteten, hieß Henri Francillon. Wenige Wochen zuvor hatte der dunkelhäutige Keeper bei der Weltmeisterschaft in Deutschland im Tor von Haiti die Fußball-Fans mit tollen Reflexen begeistert. Aber Francillon wurde bei den Löwen nie glücklich. Zum einen erwiesen sich die Sprachprobleme für ihn als großes Handicap, zum anderen stellte Max Merkel den ebenfalls neu verpflichteten Bernd Hartmann lieber ins Tor. Francillon absolvierte während der gesamten Saison nur fünf Einsätze in Punktspielen. Der Haitianer, der mit seiner Familie in Solln wohnte, kam übrigens meistens mit dem Radl zum Training. Hin und wieder auch zu spät, weil er sich im „Großstadt-Dschungel“ von München verfahren hatte. Am Ende der Saison 1975/1976 kehrte Francillon wieder in seine Heimat zurück. Deutschland blieb ihm nur aufgrund der Weltmeisterschaft in guter Erinnerung. 1999 machte dann die Meldung die Runde, der ehemalige Torwart soll bei Unruhen auf Haiti erschossen worden sein. „Nein, ich lebe noch“, sagte er zehn Jahre später der Münchner Abendzeitung, „mir geht es sehr gut“. Wie die Falschmeldung zustande kam, konnte er sich nicht erklären, zumal er zu dieser Zeit längst nicht mehr in Haiti lebte. Nach seinem Karriereende ging sein abenteuerliches Leben erst richtig los. Senator, fünf Jahre im Parlament, aber dann begannen die Unruhen in dem Karibikstaat. Mitte der 1980er Jahre, zum Ende der Herrschaft von Diktator Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier, geriet er tatsächlich in einen Kugelhagel. „Da wusste ich, wir müssen raus aus dem Land“, so Francillon. Mit Frau Chantal und den damals zwischen vier und 14 Jahren alten vier Kindern floh die Familie Anfang 1986 in die USA, beantragte in Florida Asyl und baute sich langsam eine neue Existenz auf. Der frühere Torwart arbeitete als Lieferfahrer. Als sie aus dem Gröbsten heraus waren und ein kleines Haus besaßen, wurde dies von Hurricane „Andrew“ im August 1992 vernichtet. Die Familie zog weiter nach Norden, nach Massachusetts. Im Kongresszentrum von Boston arbeitete Francillon als Putzmann, dann kam er wieder zum Fußball, trainierte Junioren-Mannschaften und das Uni-Team an Bostons Emerson College. Mittlerweile lebt er als Rentner in Norwood, einer Kleinstadt im Südosten Bostons.
INTERVIEW MIT FERDINAND KELLER
Ferdinand Keller kam 1969 von der TSG Pasing zu den Löwen, wechselte nach dem Bundesliga-Abstieg zu Hannover 96, kehrte aber 1972 wieder nach München zurück. In 126 Spielen in der zweithöchsten Spielklasse erzielte er für die Sechzger 91 Tore. Dazu kamen nochmals zwei Treffer in der Bundesliga-Saison 1969/1970 bei 24 Einsätzen. Keller avancierte im Trikot der Löwen als Zweitligaspieler 1975 zum Nationalspieler. Im Sommer 1976 wechselte der Stürmer zum HSV, gewann mit den Hanseaten 1977 den Europapokal der Pokalsieger.
Die Saison 1974/1975 war von der Rückkehr Max Merkels auf den Trainerstuhl geprägt. Welche Erinnerung haben Sie an ihn?
Ferdinand Keller: Von allen Trainern, die ich je hatte – und ich hatte in meiner Karriere nicht weniger als 18 –, war Max Merkel der beste, auch wenn es sehr hart für uns Spieler war. Wir mussten unter ihm viel mehr als unter anderen Trainern trainieren, dafür waren wir konditionell absolut fit. In den letzten zehn Minuten konnten wir immer noch zusetzen. Natürlich habe ich, wie alle anderen auch, seine Trainingsmethoden gehasst. Vor allem der 400-Meter-Lauf zum Abschluss einer Trainingseinheit mit zwei Medizinbällen unter den Armen. Spätestens nach 300 Metern hatte ich die Bälle weggeworfen.
Trotzdem hat es auch in dieser Saison nicht mit dem Aufstieg geklappt.
Keller: Eigentlich waren wir gut dabei, haben eine ordentliche Saison gespielt, die Stimmung in der Mannschaft war perfekt. Wir hatten auch das Potential, um aufzusteigen, standen auf Rang zwei. Doch dann zog ich mir im Spiel gegen die Stuttgarter Kickers einen Innenbandanriss im Knie zu. Damit war die Saison für mich beendet. Eine Woche später kündigte Max Merkel seinen Vertrag. Für ihn kam dann Heinz Lucas, der in der Saison 1976/77 mit einer Mannschaft ohne Namen den Bundesliga-Aufstieg schaffte. Ich wechselte dann zum Hamburger SV, wo ich Europapokalsieger wurde.
Sie schafften sogar als Zweitliga-Torjäger den Sprung in die Nationalmannschaft.
Keller: Ja, das gelang neben mir nur noch Sigi Held. Und Max Merkel hatte mir das vorausgesagt. Nach einem Hallenturnier in Wien, bei dem ich als bester Spieler ausgezeichnet worden war, saßen wir beim Heurigen zusammen. „Wenn du so weiter machst, spielst du bald in der Nationalmannschaft.” Und so ist es passiert.
Was machen Sie eigentlich heute?
Keller: Ich besitze ein Gästehaus mit 30 Betten in Südafrika. Fredi Heiß war bereits hier. Auch andere ehemalige Sechziger wie Klaus Fischer waren schon zu Besuch, überwiegend, um Golf zu spielen.