Der TSV 1860 zeigte in der Spielzeit 1998/1999 erneut seine zwei Gesichter. In der Vorrunde lagen die Löwen lange auf dem 2. Platz hinter Erzrivale Bayern München. Als Vierter mit 31 Punkten ging’s in die Winterpause. Doch nach dem 4:1-Sieg gegen Eintracht Frankfurt zum Start nach der Winterpause kam der freie Fall. In den restlichen Spielen holte das Team nur noch sieben Punkte, beendete die Saison zwar auf Rang neun, aber nur vier Zähler besser als Absteiger 1. FC Nürnberg.
Die Bundesliga-Saison 1998/1999 geht als eine der merkwürdigsten in der Geschichte des TSV 1860 ein. Auch wenn der 9. Platz in der Abschlusstabelle überhaupt nicht darauf schließen lässt: 41 Punkte, 49:56 Tore, eigentlich Mittelmaß. Eine Spielzeit, die man schnell vergessen kann. Eigentlich. Aber welchem Wechselbad der Gefühle die Löwen-Fans in dieser Saison ausgesetzt wurden, ist wohl einzigartig. Vom hochrespektierten Sensationsteam in der Vorrunde zur schlechtesten Mannschaft der Rückrunde. Die Löwen hatten alles drauf.
Begonnen hatte die Saison mit einer 1:2-Heimniederlage gegen den 1. FC Kaiserslautern. Eine unglückliche Angelegenheit. Denn die Sechzger waren eindeutig besser als der Deutsche Meister. Im zweiten Spiel feierten sie einen 3:2-Sieg in Frankfurt, dem ein 1:1 in Duisburg folgte. Danach gab‘s ein 3:1 zu Hause gegen Mönchengladbach (mit zwei Toren von Bernhard Winkler) und eine Woche später gewann der TSV 1860 auch beim VfB Stuttgart mit 1:0. Und siehe da: Die Löwen waren auf einmal Zweiter!
Ausgerechnet die Sechzger, die zu Saisonbeginn ihren besten Mann, Jens Jeremies, an den FC Bayern abgegeben hatten, sich außerdem auch von Abedi Pelé verabschieden mussten. Aber die Neuverpflichtungen schlugen prächtig ein. Ob es der junge Tscheche Roman Tyce war oder Stürmer Markus Schroth, Abwehrroutinier Marco Kurz, oder allen voran Gerald Vanenburg. Der Holländer war bereits 34 Jahre, 1988 feierte er in Deutschland mit den Niederlanden die Europameisterschaft, aber von seiner großen Klasse hatte der neue Abwehrchef der Sechzger so gut wie nichts eingebüßt. Vanenburg war es auch, der in Stuttgart den Siegtreffer erzielte.
Eitel Sonnenschein also bei den Löwen, die auch in der Folge nicht locker ließen. Gegen Hertha BSC wurde 2:0 gewonnen und eine Woche später fieselte man den 1. FC Nürnberg in dessen Stadion sogar mit 5: 1 ab. Präsident Karl-Heinz Wildmoser jubelte im Überschwang der Gefühle, sehr zur Freude des 1860-Anhangs: „Das Römische Reich hat nicht ewig gedauert, und auch das Rote Reich wird nicht ewig dauern.“ Eine klare Kampfansage an Lokalrivale FC Bayern, der weiterhin als einzige Mannschaft vor den Löwen lag.
Am 8. Spieltag folgte ein 2:1 gegen den VfL Bochum, der sechste Saisonsieg, der fünfte hintereinander. Solch eine Serie war dem TSV 1860 in der Bundesliga bis dahin nur ein einziges Mal gelungen. In der Meistersaison 1965/1966. Und Werner Lorant hatte nicht nur deshalb Blut geleckt. „Ich will nach der Vorrunde Erster sein“, verkündete er.
Eine Woche später stand der LöwenCoach erneut im Mittelpunkt der Schlagzeilen. Weniger angenehmen allerdings. Beim 1:1 in Leverkusen hatte er gegen Linienrichter Olaf Blumenstein, der ein Tor von Schroth nicht anerkannt hatte, derart massiv protestiert, dass Schiedsrichter Lutz Michael Fröhlich den „wilden Werner“ auf die Tribüne verbannte. Es kam aber noch schlimmer: Das DFB-Sportgericht verurteilte Lorant zu 20.000 Mark Geldstrafe und einem Spiel Sperre. Die musste er ausgerechnet im Derby gegen den FC Bayern am 11. Spieltag absitzen.
Eine Woche zuvor hatten die Sechzger zu Hause trotz drückender Überlegenheit mit 2:3 gegen Wolfsburg verloren, was jedoch nichts an der Konstellation vor dem Lokalkampf änderte: Erster gegen Zweiten! Für Uli Hoeneß ging‘s diesmal nicht nur ums Prestige, sondern auch um die Vorherrschaft in der Bundesliga. Der Bayern-Manager brachte dem TSV 1860 derart viel Respekt entgegen, dass er die Siegprämie pro Spieler gleich auf 35.000 Mark erhöhte.
Leichtverdientes Geld für jeden Bayern, die ohne große Anstrengung mit 3:1 (Ex-Löwe Jens Jeremies schoss das 1:0) gewannen. Lorant, der auf der Tribüne die Partie für einen Fernseh-Sender mitkommentierte, erklärte hinterher enttäuscht: „Meine Spieler hatten Angst und die Hosen voll.“ Und waren erstmals nach drei Monaten nicht mehr Zweiter, sondern rutschten auf den 3. Tabellenplatz ab.
Was sie allerdings keineswegs irritierte. Dem Derby folgten jeweils 2:1-Siege gegen Rostock und in Freiburg, und auch nach dem 0:0 im Olympiastadion gegen den HSV wurde kräftig gefeiert: Werner Lorant beging seinen 50. Geburtstag.
Zur Winterpause lagen die Sechzger auf dem 4. Tabellenplatz nach einem 1:1 im ersten Rückrundenspiel auf dem Betzenberg, ein Rang also, der zur Teilnahme an der Qualifikation für die Champions League berechtigt hätte. Im Winter verließ dann jedoch ein Spieler den Verein, der viereinhalb Jahre lang zu den Publikumslieblingen gezählt hatte und im defensiven Mittelfeld sehr wichtig für den TSV 1860 war: Micky Stevic, dessen Vertrag im Sommer auslief, wechselte zu Borussia Dortmund. Nur allzu gern wäre er in München geblieben, aber so viel Geld wie der BVB ihm angeboten hatte, wollte die LöwenFührung nicht zahlen. Immerhin brachte er eine Ablösesumme von 1,5 Millionen Mark in die 1860-Kasse.
An Stevics Stelle wurde Martin Cizek verpflichtet, ein tschechischer Nationalspieler, der sich im ersten Spiel nach der Winterpause (beim 4: 1 zu Hause gegen Frankfurt) gleich gut einfügte. Eine Woche später gab‘s nur ein 0:0 gegen den MSV Duisburg, aber dieses Remis vor heimischem Publikum wurde noch unter die Rubrik „Ausrutscher“ abgetan. Anschließend gab es beim Tabellenletzten und späteren Absteiger Mönchengladbach ein 0:2. Es war der Beginn einer hundserbärmlichen Serie von zehn Spielen ohne Sieg. Sicher: Die Löwen hatten viele verletzungsbedingte Ausfälle wichtiger Spieler (Winkler, Vanenburg, Tyce, Greilich) zu verkraften, aber dass sich eine Mannschaft derart aus der Erfolgsspur bringen lassen würde, damit hatte nun wirklich niemand gerechnet.
Und logisch: Je mehr Pleiten es gab, umso schlechter wurde die Stimmung innerhalb der Mannschaft. Es gab viele Streitereien, Eifersüchteleien und irgendwann krachte es an allen Ecken und Enden. Immerhin: Dem Präsidenten den runden Geburtstag zu vermiesen, das trauten sich die Löwen-Spieler dann doch nicht. Zum Sechzigsten von KarlHeinz Wildmoser gab‘s endlich wieder mal einen Sieg: Ein 2:0 gegen Freiburg. Damit war auch die eventuell noch drohende Abstiegsgefahr gebannt. Vom UEFA-Cup oder gar der Champions League wurde im Lager der Sechzger längst nicht mehr gesprochen.
Erfreulich auch noch: Das 1:1 gegen den FC Bayern am 28. Spieltag, das Marco Kurz wenige Augenblicke vor dem Schlusspfiff mit seinem Kopfball-Tor sicherte. Im allerletzten Spiel unterstrichen die Löwen jedoch nochmal, was für eine „vogelwuide“ Saison sie hingelegt hatten. Ein 4:5 gegen Schalke 04 setzte den Schlusspunkt.
Über die Gründe für den eklatanten Einbruch konnte nur spekuliert werden. Stevic fehlte an allen Ecken und Enden, doch er gehörte in der Vorrunde nicht zu den überragenden Spielern. Vielmehr lag es an der Offensive. Klammert man das erste und letzte Spiel nach der Winterpause aus, wo gegen Frankfurt und Schalke jeweils vier Treffer gelangen, brachte man bis auf das 2:0 gegen Freiburg nie mehr als ein Treffer zustande. Für Werner Lorant war es auch ein Mangel an Kreativität aus dem Mittelfeld, wieso er dann zum Ende der Saison die Verpflichtung von Thomas „Icke“ Häßler vorantrieb.
KURIOSES
Abschied von einem Publikumsliebling
Die meisten Löwen-Fans traf die Nachricht wie ein Hammer. Am 18. Juni 1999, mitten in der fußballlosen Zeit, gab Eintracht Frankfurt bekannt, dass man Horst Heldt verpflichtet habe. Der 29-jährige Flügelflitzer, der bei den Löwen eigentlich noch unter Vertrag stand, wurde für 2,8 Millionen Mark Ablöse freigegeben. Dabei war es noch keine zwei Monate her, dass Heldt sein Debüt in der Deutschen A-Nationalmannschaft gegeben hatte (am 28. April in Bremen gegen Schottland) und somit nach Jens Jeremies der zweite 1860-Spieler war, der unter Werner Lorant den Sprung in den erlauchten DFB-Kreis geschafft hatte. Dass der Löwen-Coach Heldt so ohne weiteres ziehen ließ, stieß auf viel Kritik, allerdings hatte Heldt bei den Sechzgern, wie er selbst zugab, alles andere als eine tolle Saison hingelegt. „Vielleicht sind vier Jahre bei den Löwen genug“, sagte er. „Der Abschied von den 1860-Fans tut mir sehr leid“, erklärte er, „solch eine Zuneigung wie von ihnen habe ich als Fußballer zuvor noch nie erlebt.“
Weltmeister wird ein Löwe
Doch die Löwen hatten vorher schon Ersatz für Heldt gefunden. „Was lange währt, wird endlich gut!“, sagte KarlHeinz Wildmoser, als der TSV 1860 am 1. Juni 1999 die wohl spektakulärste Verpflichtung seiner Vereinsgeschichte präsentierte: Weltmeister Thomas Häßler. Schon ein Jahr zuvor wollten die Sechzger den kleinen „Icke“ unbedingt verpflichten, Häßler entschied sich damals jedoch für einen Wechsel zu Borussia Dortmund. Ziemlich schnell musste er diesen Entschluss bereuen. Beim BVB nämlich erlebte er die schlimmsten zwölf Monate seiner Karriere als Profi-Fußballer. Er kam über ein Reservisten-Dasein so gut wie nie hinaus, Häßler fühlte sich von Trainer Michael Skibbe schwer gedemütigt. Zu Beginn des Jahres 1999 war für ihn klar: Nur schnell wieder weg aus Dortmund. Der Kontakt zum TSV 1860 war nie abgerissen, die alten Beziehungen wurden wieder aufgefrischt und schließlich erreichte Häßler, dass er ablösefrei aus seinem Vertrag mit dem BVB aussteigen durfte und endlich ein Löwe werden konnte.
Fußballer feiern 100. Geburtstag
Auch wenn‘s am Tag zuvor eine mehr als peinliche 1:3-Heimniederlage gegen Werder Bremen gesetzt hatte: der guten Stimmung tat es keinen Abbruch. Der TSV 1860 feierte am Sonntag, 16. Mai 1999, den 100. Geburtstag seiner Fußball-Abteilung. Keine Schicki-Micky-Gala war angesagt, sondern ein Fest auf dem Marienplatz mit Fans, Freunden und den Münchner Bürgern. Gekommen waren auch viele Publikumslieblinge aus vergangenen Tagen. Elf Spieler aus der Meistermannschaft waren anwesend und ließen sich ebenso nochmals feiern wie Karsten Wettberg, der die Löwen 1991 nach neun Jahren im Amateurlager wieder ins Profigeschäft zurückgeführt hatte. Insgesamt hatten sich im Lauf des Tages rund 20.000 Menschen (darunter auch der damalige DFB-Vize-Präsident Gerhard MayerVorfelder) eingefunden, die den Sechzgern zum runden Geburtstag gratulierten und auch das ein oder andere Glas Bier auf sie leerten.
INTERVIEW MIT HARALD CERNY
Harald Cerny wurde im Laufe der Saison 1995/1996 verpflichtet, um den Abgang von Rène Rydlewicz zu kompensieren. Der Österreicher sicherte sich auf Anhieb den Platz auf dem rechten Flügel, gab ihn nicht mehr her. Bis zum Abstieg 2004 absolvierte er 238 Bundesliga-Einsätze (15 Tore) für die Löwen, ist damit Rekord-Bundesligaspieler der Sechzger. Es folgten noch 25 Einsätze in der Zweiten Liga (2). Außerdem absolvierte er zwischen 1993 und 2004 47 A-Länderspiele für sein Heimatland. Nach der Saison 2006/2007 beendete er wegen zunehmender Verletzungsanfälligkeit seine Karriere beim TSV 1860.
Der Saisonverlauf in der Spielzeit 1998/1999 war absolut kurios. In der Vorrunde lange Zeit Zweiter, mit 31 Punkten als Vierter in die Winterpause, zum Rückrundenauftakt ein 4:1-Erfolg gegen Frankfurt, dann in den restlichen 16 Spielen nur noch sieben Punkte. Das brachte den unrühmlichen Titel „schlechtestes Rückrundenteam“ ein. Woran lag‘s?
Harald Cerny: Eigentlich unbegreiflich. In der Vorrunde war es super gelaufen. Wir haben in allen Spielen immer zum richtigen Zeitpunkt die Tore gemacht. Das brachte eine gewisse Eigendynamik, wir gingen mit viel Selbstvertrauen in die Spiele und punkteten regelmäßig.
Wieso dann der Bruch?
Cerny: Der Rückrundenstart gestaltete sich eigentlich noch so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wieso es dann so gegen uns gelaufen ist, kann ich mir bis heute nicht erklären. Wir haben alles Mögliche versucht. Nach der Vorrunde hatte im Traum keiner damit gerechnet, dass wir am Ende noch schwitzen müssen, um nicht abzusteigen. Zum Schluss ist wurde es hinten noch mal richtig eng. Diese Saison war wie verhext. Eine solche extreme Spielzeit habe ich vorher und nachher nicht mehr erlebt!
In „Geschichte eines Traditionsvereins“ mutmaßt Autor Claudius Mayer, dass Streitereien und Eifersüchteleien innerhalb der Mannschaft der Grund gewesen seien.
Cerny: Sicher nicht. Die hätte es ja in der Vorrunde auch schon geben müssen. Es war die gleiche Mannschaft. Ich weiß noch gut, dass in dieser Saison eine gute Stimmung im Team herrschte.
Vor dem Derby in der Hinrunde, als der Erste, FC Bayern, auf den Zweiten, 1860, traf, hat Präsident Karl-Heinz Wildmoser den Roten den Kampf um die Nummer Eins in der Stadt angesagt. Hat das vielleicht die Mannschaft unnötig unter Druck gesetzt?
Cerny: Das war ein ganz normales Geplänkel, was vor jedem Derby stattfand. Diese Kampfansage kam jedes halbe Jahr, war also nichts Außergewöhnliches in dieser Saison. Für die Medien war das ein gefundenes Fressen, sie haben es immer dankbar aufgegriffen.
Zu Beginn dieser Spielzeit kamen mit Marco Kurz und Markus Schroth zwei Spieler zu Sechzig, die später nochmals zu den Löwen zurückkehrten. Können Sie sich daran noch erinnern?
Cerny: An den Sommer schon, weil es direkt nach meiner WM-Teilnahme in Frankreich war. Ich bin ins Lauftrainingslager nach Bad Kissingen zusammen mit Daniel Borimirov nachgekommen. Marco kannte ich, er hatte sich bereits bei Schalke einen Namen gemacht. Aber an Markus kann ich mich nicht genau erinnern. Bei den vielen neuen Spielern, die ich habe kommen und gehen sehen, ist das nicht verwunderlich.